Ursprünge der Demokratie und des Grundgesetzes

1. Demokratie beruht in erster Linie auf Kommunikation und Regeln

Zur Demokratie gehört als Kernelement die Herbeiführung produktiver Kommunikation, um zu optimalen Problemlösungen zu gelangen. Hierbei geht es in zweifacher Weise um Kommunikation:

1. Es geht um sachorientierte (bzw. wissenschaftliche) Kommunikation: Wo unterschiedliche Standpunkte, Perspektiven und Zielrichtungen, Auffassungen von der Thematik und von deren Eigenart, Definitionen des Gegenstandsbereichs, methodologische Herangehensweisen, Ausbildungen und Erfahrungsbereiche der Beteiligten usw. aufeinandertreffen, ist es geboten, in gedankenlogisch nachvollziehbarer Weise für bestmögliche gegenseitige Verständigung zu sorgen.
2. Es geht um pädagogische Kommunikation: Diese ist dadurch gekennzeichnet, dass eine Person Kenntnisse und Fähigkeiten anderen Personen vermitteln möchte, die möglicherweise noch nicht über diese verfügen. Dabei ist mit etlichen Schwierigkeiten zu rechnen. Besondere (methodische und didaktische) Kenntnisse und Fähigkeiten sind erforderlich, um mit diesen Schwierigkeiten erfolgversprechend umgehen zu können.



Es gibt Regeln, deren Einhaltung geboten ist, um gelingende Kommunikation zu begünstigen. Denn dass Kommunikation gelingt, ist eher ein Glücksfall. Viel wahrscheinlicher ist, dass Kommunikation misslingt: Dass man aneinander vorbeiredet, sich gegenseitig nicht angemessen zuhört, sich missversteht, in unfruchtbare Auseinandersetzungen gerät. Darauf hat zum Beispiel Paul Watzlawick in seinem Buch „Anleitung zum Unglücklichsein“ aufmerksam gemacht. In anderen Büchern hat er gezeigt, was zu gelingender Kommunikation gehört.

Im angelsächsischen Raum entwickelte sich die Kultur des debating: Dabei geht es um das Erlernen und Üben eines Vorgehens in Diskussionen, das eine produktive Verständigung der Gesprächspartner untereinander sowie ein überzeugendes Diskussionsergebnis, eine gute Problemlösung, ermöglichen soll. Im Hinblick auf diese Ziele ist es geboten, sich um fairen Umgang miteinander zu bemühen, einander die gleichen Rechte einzuräumen und auch die gleichen Pflichten sorgfältig zu erfüllen. Auch hier geht es also um Regeln, die einzuhalten sind, damit produktive Kommunikation so gut wie möglich zustande kommt.

Gremien, die solche Ergebnisse vor allem brauchen, sind die politischen Parlamente. Diese Bezeichnung ist verwandt mit parlieren, was bedeutet: sich unterhalten, Konversation führen. Zur Demokratie gehört als Kernelement die Herbeiführung produktiver Kommunikation, um zu optimalen Problemlösungen zu gelangen.

2. Das Grundgesetz ist maßgeblich aus der Verfassung Großbritanniens hervorgegangen

Auf der englischen Insel waren über Jahrhunderte hinweg hervorragende Voraussetzungen gegeben, um eine Hochkultur im Bereich des zwischenmenschlichen Umganges und optimale innenpolitische Vorgehensweisen zu entwickeln. Gepflegt worden waren die gegenseitige Rücksichtnahme und Toleranz, die Gleichberechtigung und Fairness untereinander, die Achtung der Würde und Privatsphäre des anderen, die friedliche Konfliktaustragung in Formen argumentativer Verständigung unter Vermeidung verletzenden Handelns und die gegenseitige Unterstützung („Subsidiarität“) dort, wo jemand mit den ihm zur Verfügung stehenden Mitteln allein nicht zurecht kam. Das Bemühen um optimales sozial-emotionales Handeln, also um eine bestimmte Art guten Benehmens, die den Menschenrechten entspricht, war über lange Zeit in England so selbstverständlich gewesen, dass es unnötig erschien, die erwünschten Umgangsformen offiziell in einem Verfassungstext zusammenzustellen und auszuformulieren.

Auch wenn das im politischen Raum nicht ausdrücklich so erklärt wurde, ist es eine Tatsache, dass das Grundgesetz maßgeblich aus dem Verfassungsverständnis Großbritanniens und aus dem Science fiction Roman „Utopia“ des englischen Juristen Thomas Morus (1478-1535) hervorgegangen ist. Dieses Verfassungsverständnis und dieser Roman liegen auch der Vision und der Konzeption der Organisationen der Vereinten Nationen zugrunde.

Dieses Verfassungsverständnis und dieser Roman beruhen auf einer universellen Vorstellung von gutem familiärem Zusammenleben im Rahmen der Menschheitsfamilie (family of man): Jeder trägt bestmöglich zum Wohl der Allgemeinheit bei, zu optimalem Zusammenleben, zu public wealth und public health, so wie es im britischen Commonwealth angestrebt worden war.

Dem entsprechend wurde Artikel 1 des Grundgesetzes formuliert:

(1) Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.
(2) Das Deutsche Volk bekennt sich darum zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt.
(3) Die nachfolgenden Grundrechte binden Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung als unmittelbar geltendes Recht.



Im Unterschied zum Grundgesetz sieht die britische Verfassungsordnung eine ständische Repräsentation der Bevölkerung im Parlament vor, das aus dem Oberhaus (House of Lords), dem Unterhaus (House of Commons) und dem König besteht. Carlo Schmid bezog sich in seiner Argumentation zugunsten der Grundrechte im Grundgesetz ausdrücklich auf den Schweizer Pädagogen und Sozialreformer Johann Heinrich Pestalozzi (1746-1827). Pestalozzi ging davon aus, dass Bildung für alle eine notwendige Voraussetzung ist, um die Standesunterschiede zu überwinden und um für die Anerkennung und Beachtung der Menschenwürde zu sorgen.

3. Demokratie und die Beachtung der Grundrechte erfordern zweckmäßige Bildungsmaßnahmen

Pestalozzi hatte die Zerstörung der traditionellen Familienstrukturen durch die Industrialisierung beobachtet und setzte sich für die Beendigung der Ausbeutung der Heranwachsenden für wirtschaftliche Zwecke ein, um ihnen den notwendigen Freiraum zur selbständigen Entfaltung ihrer individuellen Eigenarten und Begabungen zu eröffnen. Infolge dessen ist mit Carlo Schmid in der Bildungsförderung und in der Überwindung der Standesunterschiede die hauptsächliche inhaltliche Bedeutung von Artikel 2 (1) des Grundgesetzes zu sehen:

(1) Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt.


Zur freien Entfaltung der Persönlichkeit ist in erster Linie zweckmäßige Erziehung und Bildung zu Gunsten der Begabungsentfaltung erforderlich. John Dewey hatte schon 1916 in seiner Schrift „Demokratie und Erziehung“ betont, was hier zu berücksichtigen ist. Der Erziehungs- und Bildungsauftrag der Schulen ist in den Verfassungen und Schulgesetzen der deutschen Bundesländer formuliert worden.

4. Die grundgesetzliche Ordnung ist in Deutschland noch nicht hinreichend verstanden und in angemessenen Formen verwirklicht worden

Der Bildungsaspekt der freien Entfaltung der Persönlichkeit findet in den Kommentaren zum Artikel 2 des Grundgesetzes keine Erwähnung. Er scheint nahezu allen Staatsrechtlern in der Bundesrepublik Deutschland entgangen zu sein, ebenso wie der sachlogische Zusammenhang des Grundgesetzes und der Grundrechte mit

1. der Verfassung Großbritanniens,
2. dem traditionellen englischen Sozialverhalten,
3. optimalem familiärem Umgang, der auf der Beachtung der Menschenrechte beruht und
4. der Konzeption der Vereinten Nationen.

Deutsche Staatsrechtler, auch Bundesverfassungsrichter, werden maßgeblich von juristischen Denktraditionen geprägt, die vor der Verabschiedung des Grundgesetzes in Deutschland vorherrschend gewesen waren. Demokratisch-grundrechtsgemäßes Vorgehen und diesem entsprechende Formen rechtsstaatlicher Kommunikation (s.o.) sowie die internationale Rechtsperspektive werden in der deutschen Juristenausbildung bis heute noch nicht hinreichend vermittelt. Der Wissenschaftsrat fordert in seinen Empfehlungen vom 9. November 2012 eine inhaltliche Reform des juristischen Studiums in Deutschland: die juristische Grundlagenbildung sei zu stärken.

Der verfassungsmäßige Erziehungs- und Bildungsauftrag wird in den deutschen Schulen nur unzulänglich praktisch verfolgt und umgesetzt. Das zeigen die Befunde der PISA-Vergleichsstudien: Hier gehört Deutschland zu denjenigen Ländern, in denen die Schulleistungen besonders stark mit Merkmalen des sozialökonomischen Status zusammenhängen.

Weitere Ausführungen zum Erziehungs- und Bildungsauftrag der Schule unter dem Anspruch des Grundgesetzes finden Sie hier.